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Das Passionsretabel der Familie Greverade

Das Passionsretabel der Familie Greverade

von Hans Memling

Das Passionsretabel, umgangssprachlich auch Memling-Altar genannt, ist das berühmteste und kostbarste Kunstwerk in Lübeck. Die Lübecker Kaufmannsfamilie Greverade stiftete es 1491 für den Dom. Wie viele Wandelaltäre des späten Mittelalters besitzt das Retabel, also der Altaraufsatz, zwei bewegliche Flügelpaare und somit drei verschiedene Ansichten und Programme. Im geschlossenen Zustand sind die Außenseiten mit der Verkündigung in Grisaille zu sehen, die Flügel der zweiten Wandlung zeigen die vier Heiligen Blasius, Johannes der Täufer, Hieronymus und Aegidius. Aufgeklappt zeigt das Retabel die prächtige Innenseite mit der Passion Christi.

Die Entstehung

Die Familie Greverade war Ende des 15. Jahrhunderts eine bedeutende Lübecker Kaufmannsfamilie mit internationalen Handelsbeziehungen. Adolf  Greverade (um 1452 – 1501) war zunächst Kaufmann, wurde dann Pfarrer zu Löwen in Brabant und 1479 schließlich Domherr zu Lübeck. Sein Bruder Heinrich (gest. um 1500) war lange im Brügger Hansekontor tätig. Dort wurde auch der Auftrag zur Anfertigung des Retabels an den Maler Hans Memling vergeben. Von welchem der beiden Brüder ist ungeklärt. Gewiss ist aber, dass die Famile Greverade durch den Kauf eines Retabels bei solch einem berühmten Maler in den Niederlanden ihren Wohlstand und ihr Weltbürgertum zur Schau stellen wollten.

Hans Memling (um 1435 - 1494) gehört zu den Vertretern der altniederländischen Maler, die unter dem Einfluss von Rogier van Weyden und der Brüder van Eick gearbeitet haben. Das Passionsretabel der Familie Greverade, das er laut Inschrift 1491 fertigstellte, war eines seiner letzten Werke. Ab 1504 ist der Altar in der Kapelle der Familie Greverade im Lübecker Dom nachweisbar. Dort stand er 435 Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg. Ab 1939 bewahrte man die Tafeln verpackt unter den Türmen des Doms auf, sodass sie die Bombennacht am 29. März 1942 überdauerten und gerettet werden konnten. Nach der teilweisen Zerstörung des Doms überwies man das Retabel in die Sammlung des St. Annen-Museums.

Die Werktagsseiten

Die schlichter gestalteten Außenflügel zeigen die Darstellung der Verkündigung an Maria als gemalte Skulptur (Grisaille). In diesen Malereien offenbart sich das feinsinnige Gespür des großen niederländischen Meisters für die neuen Trends in der Malerei seiner Zeit. Gemalte Skulpturen waren erst im 15. Jahrhunderts in der niederländischen Malerei aufgekommen und zu einem  beliebten Motiv geworden. Hier konnten die Meister mit unterschiedlichen Realitätsebenen spielen und in einen Wettstreit der Künste treten.

Geschickt hat Hans Memling den Verkündigungsengel Gabriel und die jungfräuliche Maria als steinerne Figuren  plastisch in Nischen gestellt. Nachdem zuvor sein Lehrer Rogier van der Weyden Skulpturen mit Aussprüngen und Stegen gemalt hatte, geht Memling hier bereits einen anderen Weg: Er verbindet die steinerne Anmutung mit malerischen Effekten. So schwebt die Taube als Sinnbild des Heiligen Geistes frei herab, das Band am Gewand des Engels zeigt er in Bewegung. Auch der Raum wird mit einbezogen: Eine farbige Vase mit Lilien, dem Jungfräulichkeitssymbol Mariens, und Schwertlilien, die vom Leid Christi künden, steht vor der Nische. Die inhaltliche Botschaft der Gesamtkomposition ist eindeutig: Mit der Verkündigung der Geburt Jesu nehmen die weiteren Geschicke (die Passion auf den Innenseiten) ihren Lauf.

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Vor die Nische mit der Marienstatue steht eine Blumenvase. Die Blüten haben nicht nur dekorativen Charakter, sie vermitteln auch eine Botschaft. Die Lilie verweist auf die Reinheit der Gottesmutter und die unbefleckte Empfängnis, während die Iris, die Schwertlilie, vom Leid der anstehenden Passion Christi kündigt. Wer genau hinschaut, entdeckt, dass die Blüte nicht wie in der Natur üblich sechs, sondern sieben Staubgefäße hat. Durch dieses kleine, wohlüberlegte Detail erinnert der Maler an die Sieben Gaben des Heiligen Geistes (Weisheit, Erkenntnis, Einsicht, Rat, Stärke, Frömmigkeit und Gottesfurcht), über die nur Gottes Sohn verfügt.
Auf der Außenansicht ist die Verkündigung an Maria dargestellt. Die Szene geht auf eine Stelle aus dem Lukasevangelium zurück: "Der Engel Gabriel wurde von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden." Lk 1, 26-35
Die Sonntagsseiten

Die Innenflügel zeigen vier große stehende Heilige: Blasius, Johannes der Täufers sowie Hieronymus und Ägidius, die Schutzpatrone der Stifterfamilie Greverade und des Doms von Lübeck waren.

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Dass dieses Retabel für den Lübecker Dom angefertigt wurde, ist durch die Auswahl der dargestellten Heiligen auf der Sonntagsseite erkennbar. Hier ist der heilige Blasius, der Patron des Doms, in reich verzierten bischöflichen Gewändern und mit seinen Attributen, der Kerze und dem Wollkamm, dargestellt.
Ein weiterer Patron des Doms: Johannes der Täufer, der Hauptpatron, zeigt auf das Lamm Gottes, das sinnbildlich für die Passion Christi steht.
Dieser Heilige, der der Legende nach einen Dorn aus der Pfote eines Löwens zog, ist der heilige Hieronymus. Als einer der vier Kirchenväter ist er hier im Gewand eines Kardinals abgebildet. Hieronymus war der Heilige der Lübecker Auftraggeberfamilie Greverade.
Der heilige Aegidius, der mit einer Hirschkuh auftritt, verweist wahrscheinlich auf die Nähe des Doms zur Lübecker Aegidiuskirche.
Die Festtagsansicht

Prächtige Szenen entfalten sich auf den Innenflügeln. Sie zeigen die Passion und die Auferstehung Christi. Die Kreuzigung ist der optische Höhepunkt. In meisterlichem Können erzählt Memling neben der Gesamtschau eine Vielzahl in sich geschlossener Begebenheiten in simultanen Szenen.

Auf dem linken Flügel sind die Szenen Christus am Ölberg, Gefangennahme, Geißelung und Verspottung,  Jesus vor Pilatus und Ecce Homo bis hin zur Kreuztragung dargestellt. Hans Memling hat all diese Szenen geschickt in die erdachte Architektur der Stadt Jerusalem eingebunden. Der Stifter kniet in der linken unteren Ecke demütig betend. Der Hund, der vor dem knienden Stifter auf dem linken Innenflügel erscheint, gilt als Treuesymbol und spiegelt die Unterwürfigkeit und Demut der Stifter wieder.

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Die Kreuzigung auf der Mitteltafel vereint den Zusammenbruch Mariens unter dem Kreuz, die trauernde Maria Magdalena am Kreuzesfuß, den guten Hauptmann, der im Moment des Todes Gottes Sohn erkennt, und rechts unten die Schergen, die um das Gewand Jesu würfeln. Menschen, Tiere, Architektur und Landschaft wirken zum Greifen nahe. Hans Memling benutzte die damals üblichen Symbole: die Verdunkelung der Sonne, das kleine Äffchen, die Knochen Adams und verschiedene Blumen: Sie alle verweisen in ihrer übertragenen Bedeutung auf Aspekte des Todes Christi oder auf bestimme Bibelstellen. 

Trotz der Vielzahl der erzählten Begebenheiten hat die Darstellung eine ganz bestimmte Ordnung, die durch die meisterliche Gesamtkomposition erreicht wird. Von dieser werden wir in besonderer Weise angezogen, weil einzelne Figuren Blickkontakt nach außen suchen und uns auf diese Weise zu Zeugen des Geschehens machen.

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Durch die Gestaltung des Himmels sind die drei Tafeln miteinander verbunden. Auf der Mitteltafel verfinstert sich während der Kreuzigung der Himmel, wie im Matthäusevangelium beschrieben. Auch auf den Seitentafeln spielt das Licht eine bedeutende Rolle. Auf der linken Tafel bricht der Tag der Passion an, hinter dem Ölberg hat bereits die Morgendämmerung begonnen. Auf der rechten Tafel geht strahlend die Sonne auf, sie versinnbildlicht die Auferstehung und gilt als Zeichen der Hoffnung.
Auf dem Kalvarienberg, dem Schädelberg, auf dem Jesus gekreuzigt wird, erinnern Schädel und Knochen an Adam, den ersten Menschen, und die Erbsünde, von der die Menschen nun durch den Tod Christi erlöst werden.
Die Häscher würfeln um das Gewand Jesu.

Beweinung Jesu

"Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen; die waren Jesus aus Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient; unter ihnen war Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus." Mt. 27, 55-56
Allegorische Bedeutung haben auch die Pflanzen: Das weiße Gänseblümchen steht für die Demut der Maria, der Löwenzahn in seinen drei Blütestadien für das Wirken, den Tod und die Wiederauferstehung Christi und der blutstillende Wegerich kann als Verweis auf die Kreuzigung gedeutet werden. Das Schöllkraut, am unteren Rand in einer Achse mit dem Kreuz, wurde als Mittel gegen Augenkrankheiten eingesetz und versinnbildlicht so die Erkenntnis, die Überwindung der geistigen Blindheit.
Diese Genreszene hat eine metaphorische Bedeutung: Ein Kind spielt mit einem Affen, der hinter einem Mann in prächtiger Kleidung auf einem Pferd sitz. Die Szene wurde unterschiedlich gedeutet. Sie ist ein Sinnbild für Unvernunft und Sündhaftigkeit, doch da der Affe, der für das Böse steht, angekettet ist, wird die Erlösung durch den Tod Christi in diesem kleinen Detail wiedergespiegelt. Gleichzeitig lenkt der böse Affe uns von den wichtigen Dingen ab und verführt uns, ihn zu betrachten anstatt die Kreuzigung Christi. Es bleibt also weiterhin eine Herausforderung, den Versuchungen des Bösen standzuhalten.

Die rechte Tafel zeigt die Grablegung und Auferstehung Christi sowie die Himmelfahrt. Ein Pfad verbindet die Szenen, die, ungeachtet ihrer Bedeutung, immer kleiner und im Hintergrund in die Landschaft eingebettet werden. Im Mittelpunkt der Tafel steht der Auferstandene in einem roten Mantel, der ihn deutlich von der Umgebung abhebt.

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