Meistermaler zwischen Renaissance und Reformation
Erstmals seit 500 Jahren treffen sie wieder aufeinander: der "Superstar der deutschen Renaissance" und der "Hidden Champion" aus Lübeck: Lucas Cranach der Ältere und sein Meisterschüler Hans Kemmer, der bis heute selbst in seiner Heimatstadt zumeist unbekannt ist. Anlässlich seines 460. Todestages wird erstmals überhaupt der größte Teil seiner erhaltenen Werke in einer Ausstellung gezeigt und entsprechenden Motiven von Lucas Cranach und seiner Werkstatt gegenübergestellt.
Der am 4. Oktober 1472 in Kronach geborene Maler Lucas Cranach d. Ä. arbeitet zunächst in Wien, wird aber 1505 an den Hof des Kurfürsten Friedrich III. des Weisen von Sachsen nach Wittenberg berufen. Als Hofmaler des humanistisch gebildeten und den Künsten und Wissenschaften zugeneigten Regenten, bekleidet er ein lukratives Amt, das ihm in kurzer Zeit großes Ansehen und Wohlstand einbringt. Er zieht mit seiner Werkstatt vom Wittenberger Schloss in zwei Häuser am Markt und kauft schließlich die später sogenannten Cranach-Höfe in der Schlossstraße 1. Hier unterhält er eine der erfolgreichsten Werkstätten seiner Zeit mit zeitweilig bis zu elf Mitarbeitern.
Cranach ist ein gewiefter Geschäftsmann. So erwirbt er weitere Immobilien und betreibt schließlich neben seiner Malerwerkstatt zusätzlich einen Weinhandel, eine Apotheke, einen Buch- und Papierhandel sowie eine Druckerei. Auch die politischen Geschicke Wittenbergs lenkte er mit: Gleich neunmal wurde der Meister für je zwei Jahre Ratsherr und zweimal sogar Bürgermeister. Bereits 1528 gilt Lucas Cranach d. Ä. als reichster Bürger der Stadt und seine Stellung darf in Sachsen als absolut konkurrenzlos angesehen werden.
Die Marke Cranach
Cranach gilt als einer der ersten großen Kunstunternehmer, der eine eigene "Marke" kreiert: Er baut sich ein Team von hochqualifizierten Mitarbeitern auf, das in einem einheitlichen Malstil arbeitet, der ganz dem seinen entspricht. Sie alle sind also in der Lage, die verschiedenen Motive in gleicher Weise auszuführen und es ist dabei zweitrangig, ob sie von Cranach selbst stammen oder aus der Werkstatt kommen. Signiert werden die Werke mit der berühmten geflügelten Schlange, die dem Wappen entspricht, das Friedrich der Weise Cranach 1508 verliehen hat. So können Auftraggeber für Altäre, neue reformatorische Bilder und Porträts schnell bedient werden. Oft werden die Motive seriell und im großen Stil produziert.
1508 verleiht Friedrich der Weise seinem talentierten Hofmaler Lucas Cranach d. Ä. einen Wappenbrief, mit dem er für seine bisherigen Verdienste ausgezeichnet wird:
"(...) dieses nachbenannte Kleinod und Wappen (...), darinnen eine schwarze Schlange, habend in der Mitte zwei schwarze Fledermausflügel, auf dem Haupt eine rote Krone und in dem Mund ein gülden Ringlein, darinnen ein Rubinsteinlein (...), daß sie den genannten Lucas Cranach und seine ehelichen Leibeserben (...) für ewiglich an dem obgeschriebenen Kleinod und Wappen (...) gebrauchen, genießen (...)."
(Friedrich III. Herzog von Sachsen, Cranachs Wappenbrief, zit. nach: Lucas Cranach der Ältere im Spiegel seiner Zeit. Aus Urkunden, Chroniken, Briefen, Reden und Gedichten, hrsg. und erläutert von Heinz Lüdecke im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste, Berlin 1953, S. 59 f.)
Nach dem frühen Tod seines erstgeborenen Sohnes Hans während einer Studienreise nach Bologna 1537 ändert Cranach das Signet in eine Schlange mit nun liegenden Flügeln.
Um 1495–1500 wird Hans Kemmer in Lübeck geboren. Maler will er werden und geht, wie es sich gehört, in die Lehre eines erfahrenen Meisters. Anfang des 16. Jahrhunderts boomt der Kunstmarkt in der Hansestadt, viele Menschen setzen noch auf fromme Stiftungen zugunsten Ihrer Jenseitsvorsorge. Die Berufswahl verspricht also ein gutes Auskommen. Das sich dies mit Einführung der Reformation bald ändern sollte, war noch nicht absehbar. Heute sind neben dem Bildschnitzer Benedikt Dreyer und den Malern Hans von Köln und Jacob van Utrecht nur wenige Meister aus dieser Zeit bekannt, die in Lübeck gearbeitet haben. Möglicherweise war es die Werkstatt von Hermann Wickhorst, in der Kemmer seine erste Lehrzeit verbringt. Aber auch Hans von Köln, der Meister der Gemälde auf den Flügeln des Antoniusaltars aus der Lübecker Burgkirche kommt als Lehrmeister in Frage.
Die engen Handelsbeziehungen zwischen Lübeck und den Niederlanden wirken sich auch auf den Kunstmarkt aus. Lübecker Bürger geben Werke bei niederländischen Künstlern in Auftrag und einige von ihnen kommen sogar in die Hansestadt, um hier zu leben und zu arbeiten. Jacob van Utrecht ist solch ein zugezogener flandrischer Meister, der mit seiner Kunst sicher den jungen Hans Kemmer stark beeinflusst hat. Allgemein ist das Interesse der deutschen Künstler an der hoch geschätzten Malerei der Niederlande groß. So sind Reisen dorthin auch für Lucas Cranach d. Ä. und seinen berühmten Zeitgenossen Albrecht Dürer bezeugt.
Auf nach Wittenberg
Auch wenn er in seiner Heimatstadt mit der niederländischen Malerei in engen Kontakt gekommen war, geht Hans Kemmer als Geselle nach Wittenberg, denn Cranach war bereits weithin bekannt. Solche Wanderschaften waren üblich, um neue Erfahrungen zu sammeln. Auch wenn Hans Kemmer urkundlich nicht in der Cranachwerkstatt nachweisbar ist, gibt es zahlreiche Parallelen, die zeigen, dass Kemmer die Werke von Cranach gut gekannt und studiert hat. Im Zuge der Ausstellungsvorbereitungen konnten nun auch neue schlagende Argumente gefunden werden, die für Kemmers Wirken in Wittenberg, vermutlich von 1515 bis 1520, sprechen. So sind in einer Werkgruppe dieser Zeit aus der Cranachwerkstatt Unterzeichnungen und motivische Parallelen nachweisbar, die eindeutig auf Kemmer verweisen.
Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die beiden obenstehenden Infrarot-Aufnahmen: Links ist ein Detail des in Lübeck entstandenen Gemäldes Christus und die Ehebrecherin von Hans Kemmer zu sehen, dem rechts ein Detail von der Anbetung der Könige in Naumburg aus der Cranach-Werkstatt gegenübergestellt ist. Untersucht man die jahrhundertealten Malschichten mit der Infrarotkamera, wird sichtbar, wie die Maler die Komposition des Bildes auf den Malgrund anlegten. In beiden Fällen hat der Künstler schnell und mit großer Sicherheit die wesentlichen Details mittels eines Spitzpinsels und schwarzer Farbe skizziert und sich während des Zeichnens korrigiert. Auffällig erscheint in beiden Bildern die Begeisterung für die Darstellung von markanten Hakennasen. War hier derselbe Maler, also Hans Kemmer, am Werk?
Was für eine Ähnlichkeit! Auch dieser Bildvergleich offenbart viele Parallelen in der Komposition der beiden weiblichen Salome-Figuren, die in einer Schale das abgeschlagene Haupt von Johannes vor dunklem Hintergrund präsentieren. Der ähnliche Schnitt der kostbaren Kleidung spricht weiterhin dafür, dass Hans Kemmer die zeitlich früher entstandene Salome von Lucas Cranach d. Ä. gekannt haben muss. Kemmer fertigt aber mit diesem frühesten verbürgten Bild keine genaue Kopie des Vorbildes an, sondern wandelt einige Aspekte ab. Auffallend ist unter anderem seine große Freude an der Gestaltung des kostbaren Schmucks und der erlesenen Brokatstickereien, während Cranachs feinmalerisches Augenmerk dem üppigen Pelzbesatz des Mantels und der Kopfbedeckung gilt.
Cranach und die Reformatoren
Eine enge Freundschaft verbindet den Maler mit Martin Luther, dem wohl bekanntesten und bedeutendsten Reformator, der seit 1508 an der Wittenberger Universität lehrt. Cranach wird Trauzeuge bei Luthers umstrittener Hochzeit mit Katharina von Bora: der einstige Mönch heiratet eine ehemalige Nonne. Um den darauffolgenden Schmäh- und Spottschriften der altgläubig Gesinnten entgegenzutreten, fertigt Cranachs Werkstatt die betont ruhigen und bürgerlichen Doppelporträts des frisch vermählten Ehepaars in großer Zahl an, die zugleich ein deutliches Statement gegen das Zölibat setzen. Aufgrund der seriellen Produktion der Porträts kann sich das Bild des Paares schnell im ganzen Reich verbreiten. Auch die Bilder von Luthers Mitstreitern, Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen, der 1531 die neue protestantische Kirchenordnung in Lübeck einführt, erreichen durch Wiederholungen in großer Stückzahl einen enormen Bekanntheitsgrad. So verdanken wir das Wissen um das Aussehen der Protagonisten der Reformation den eingängigen Porträts von Cranach und seiner Werkstatt.
Zurück in Lübeck
Nach seiner Gesellenzeit kehrt Hans Kemmer aus Wittenberg zurück nach Lübeck. Vielleicht erhält er im Jahr 1522 die Nachricht aus seiner Heimatstadt, dass sein einstiger Lehrherr Hermann Wickhorst verstorben ist. Dies bedeutet für Kemmer möglicherweise eine günstige Gelegenheit, sich selbstständig zu machen und eine eigene Werkstatt zu führen. Noch im selben Jahr heiratet er also Wickhorsts Witwe Anneke und kann so, wie es damals üblich war, die Werkstatt des verstorbenen Meisters übernehmen. Kemmer muss sich als Maler schnell einen Namen gemacht haben, da er bereits im Oktober desselben Jahres seinen ersten gesicherten Großauftrag erhält: den sogenannten Olavsaltar für die Bergenfahrerkapelle in der Lübecker Marienkirche.
Ratsherren, Kaufleute und wohlhabende Handwerker zahlen gut für fromme Bildwerke und Porträts des einstigen Cranach-Schülers. Kein Wunder, kam er doch bestens gerüstet aus Wittenberg, wo er Gelegenheit hatte, die großen Reformatoren und auch wichtige humanistische Ideen kennenzulernen. Zudem hat er in Cranachs Werkstatt die neuen evangelischen Bildmotive kennengelernt. Eine ideale Voraussetzung also, das vermögende Publikum in Lübeck zu bedienen. Vielleicht hat er auch etwas von Cranachs Geschäftssinn mitgenommen, denn auch er wurde bald schon der wichtigste reformatorische Maler der Stadt und konnte sich bereits 1528 in der noblen Königstraße in direkter Nachbarschaft zur Katharinenkirche ein Haus leisten. Auch die vornehmen Bruderschaften und Kompanien haben hier ihren Sitz. Das alte Malerviertel am Pferdemarkt überlässt er den Kollegen. Hans Kemmer ist zu dieser Zeit der einzige Angehörige des Maleramtes, der sich den Kauf eines Hauses in dieser exklusiven Lage leisten konnte.
Auch wenn sich das Selbstverständnis der Maler und Bildhauer allmählich ändert, sind sie in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständegesellschaft noch immer den Handwerkern zugeordnet. Wie Cranach malt auch Kemmer sowohl für altgläubige wie für reformatorische Auftraggeber. So wird Hans Kemmer etwa vom Ehepaar Timmermann damit beauftragt, für die Hochzeit ihrer Tochter eine hölzerne Schüssel kostbar zu bemalen. Sie soll dazu dienen, die Brautgaben der geladenen Gäste einzusammeln. Kemmer versieht den Rand der Schüssel mit kunstvollem Rankenwerk und Wappen. Die Vertiefung ziert die Darstellung des Gekreuzigten in den Armen Gottvaters in der Begleitung der Taube des Heiligen Geistes. Eine solche Darstellung bezeichnet man als Gnadenstuhl, ein Motiv, das auch von Cranach häufiger dargestellt wurde.
In Wittenberg ist Hans Kemmer mit den Ideen der Reformation in Berührung gekommen und Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen, die mit Lucas Cranach d. Ä. eng verbunden waren, ist er wohl auch persönlich begegnet. Der Kontakt zu ihnen und weiteren Gelehrten und Humanisten der Wittenberger Universität sowie deren Schriften beeinflussen Kemmers Leben und Arbeit auch noch in Lübeck. So steht er nach seiner Rückkehr im Austausch mit den wichtigsten protestantischen Gremien, dem 64er-Ausschuss und der Leonhardsbruderschaft. Ihre Mitglieder, die sich aus Kaufleuten und Handwerkern zusammensetzen, treiben maßgeblich die Durchsetzung der Reformation gegen den konservativen altgläubigen Rat der Hansestadt voran.
In Lübeck verbreitet sich die Lehre Luthers zwischen 1522 und 1529. Kaufleute und wohlhabende Handwerker, die gute Kontakte nach Süddeutschland unterhalten, setzen sich mit den reformatorischen Schriften auseinander. Doch auch einfache Bürger interessieren sich für Luthers Werke. Diese neue Bewegung verspricht auch politisch einiges zu verändern und für die niederen Stände zum Besseren zu wenden. Der konservative Rat sieht seine Vormachtstellung in Gefahr und widersetzt sich den reformatorischen Kräften. Schließlich kommt es immer wieder zu öffentlichkeitswirksamen Protesten in der Jakobikirche, wo lutherische Lieder gesungen werden, um den Ablauf der auf Latein zelebrierten Messe zu stören.
In der altehrwürdigen Hansestadt geht es hoch her. Nachdem der Kaplan von St. Marien, Johannes Walhoff, und Andreas Wilms, Prediger am Dom, lutherisch gepredigt hatten, beschließen der Rat und das Domkapitel, beide aus der Stadt auszuweisen. Die Gemeinden üben aber – unter anderem auch durch den sogenannten Singekrieg – solchen Druck aus, dass die Beschlüsse zurückgenommen werden und beide in die Stadt zurückkehren können. Am Ende stimmt der Rat 1530 sogar zu, dass in St. Aegidien das Abendmahl in beiderlei Gestalt gereicht werden darf. Das bedeutet die Austeilung sowohl des Brotes als auch des Messweins an die Gemeinde. Zukünftig darf zudem in allen Pfarrkirchen lutherisch gepredigt werden. Am 28. Oktober 1530 erreicht schließlich Johannes Bugenhagen, ein enger Vertrauter Luthers, die Stadt, um für Lübeck eine neue Kirchenordnung zu erarbeiten, die am 27. Mai 1531 rechtskräftig beschlossen und eingeführt wird.
Wie in anderen protestantischen Gegenden, so ändert sich auch in Lübeck mit der Einführung der Reformation die Situation der Künstler radikal. War die Hansestadt bis in die 20er Jahre des 16. Jahrhunderts noch eine Kunstmetropole, deren Werkstätten Bildwerke in den gesamten Ostseeraum lieferten, bricht dieser Markt nun stark ein. Denn anders als zuvor spielt die Jenseitsvorsorge mit der Heiligenverehrung und vor allem mit materiellen Stiftungen in Form von Kunstgegenständen keine Rolle mehr. Das bedeutet, man kann nicht mehr mit frommen Stiftungen die Zeit im Fegefeuer verkürzen, um schneller ins Paradies zu kommen, wie man bis dahin glaubte. Jetzt ist jeder allein für sich verantwortlich und muss als Sünder Buße tun, um die Gnade Gottes zu erwirken. Kostbare Altäre und Kultbilder machen also keinen Sinn mehr und so gehen die Aufträge für Maler, Bildschnitzer und Vergolder plötzlich drastisch zurück.
Anders als Andreas Bodenstein (gen. Karlstadt) und Huldrych Zwingli, die alle frommen Kunstwerke ablehnen, erkennt Luther den didaktischen Wert der Bilder. Cranach hat vielleicht gemeinsam mit seinem engen Freund Luther und Melanchthon, neue Bildmotive mit einer solchen Botschaft entwickelt. Dazu gehört die Fokussierung auf die wesentlichen Inhalte und immer wieder die Botschaft: Jesus nimmt die bußfertigen Sünder an.
Neue Zeiten - Neue Bilder
Von Sünde und Erlösung
Lucas Cranach d. Ä., Gesetz und Gnade, 1529, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, © Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft
Welcher Mensch schafft es schon sündenfrei durchs Leben zu kommen? Martin Luther ist überzeugt: niemand! Einzig durch Gottes Gnade kann dem reuigen Sünder das Seelenheil zuteilwerden und das wird in dem neuen Bildtyp von Gesetz und Gnade deutlich gemacht. Cranach hat das Motiv in der frühen Reformationszeit entwickelt. Es führt uns die Rechtfertigungslehre Luthers besonders eindringlich vor Augen. Diese bezieht sich auf die biblische Bußpredigt von Johannes dem Täufer, mit der sich Luther intensiv beschäftigt. Der arme, ratlose Sünder ist auf der Suche nach seinem Seelenheil. Dabei erscheinen Szenen aus dem Alten Testament rund um den Sündenfall und solche des Neuen Testaments, die sich um die Kreuzigung und Auferstehung Christi drehen, denn damit erlöst Jesus die Menschen von der alten Erbsünde. Die christliche typologische Lehre geht davon aus, dass Begebenheiten des Alten Testaments solche des Neuen Testaments ankündigen.
Tod und Teufel können also erst durch den Opfertod Christi überwunden werden. Johannes der Täufer weist dem sündigen Menschen den rechten Weg. Er soll Buße tun und auf die Gnade Gottes vertrauen. Es wird vermutet, dass Luther oder auch Melanchthon an der komplexen theologischen Bildschöpfung beteiligt gewesen sein könnten.
Hans Kemmer rückt in seiner Version des Bildmotivs das erste Menschenpaar ins Zentrum des Bildes. Dabei übernimmt Adam die Rolle des Johannes und weist Eva auf die erlösende Auferstehung Christi hin. Die Botschaft gilt also für alle: für Sünderinnen und Sünder, Frauen und Männer gleichermaßen. Dabei vergegenwärtigt der mit einem Speer bewaffnete Tod die Folgen des sündhaften Tuns.
Der sündige Mensch kann auf Gnade hoffen! Sogar der jungen Frau, die beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt wird, steht dieser Weg offen. Die Frau soll nach dem Gesetz gesteinigt werden, doch Christus ergreift Partei für sie. Die Ehebrecherin ist für Luther eine wichtige Figur seiner Rechtfertigungslehre. Kemmer schafft mit seiner Version einen Bezug zum Auftraggeber, denn direkt hinter Jesus trägt sein Lieblingsjünger Johannes die Züge des gleichnamigen Lübecker Auftraggebers Johann Wigerinck, dessen Wappen zudem vorne links angebracht ist.
Auch wenn es Darstellungen zu diesem Motiv bereits vorher gibt, ist die Bildauffassung neu. Vielleicht haben Cranach und Kemmer sie sogar gemeinsam nach oberitalienischen Vorbildern entwickelt. Bezeichnend ist die Darstellung der großen Figuren, die wie herangezoomt erscheinen, sodass die Betrachtenden sich auf den einzig wichtigen Inhalt konzentrieren können. Nicht die Bilderzählung ist wichtig, sondern die Umsetzung der zentralen Botschaft. Es geht um die Gnade Christi: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“.
Vergiss mein nicht
Für den Meistermaler Hans Kemmer ist die Anfertigung von Porträts der Lübecker Führungselite ein wichtiger Auftragszweig. Aus den mittelalterlichen Stifterdarstellungen hatte sich in der Renaissance das selbständige Porträt entwickelt und war ein Zeichen des gestiegenen Selbstbewusstseins der Bürgerinnen und Bürger. Dabei war es wichtig, das lebende Vorbild möglichst ähnlich abzubilden, war es doch die einzige Möglichkeit der Erinnerung an eine Person nach ihrem Tod. Noch heute können wir uns daher dank der Porträts von Hans Kemmer ein Bild von Lübecker Bürger:innen und Kaufleuten jener Zeit machen; so etwa von Hinrich Gerdes, dem Ratsherren und Kaufmann Carsten Timmermann und seiner Frau Elisabeth Kruselmann, dem Mitglied der Bergenfahrerkompanie Hans Sonnenschein sowie Christoph Tiedemann, einem der letzten altgläubigen Domherren.
Das Bild zeigt das Verlöbnis des Lübecker Kaufmanns Johann Wigerinck, der uns bereits als Auftraggeber begegnet ist, mit seiner zweiten Frau Agneta Kerckring in einer idealisierten Landschaft. Kemmer greift hier nicht nur den Frauentypus Cranachs auf, sondern legt der gesamten Komposition die Darstellung des 6. Gebotes der Zehn Gebote-Tafel von Lucas Cranach d. Ä. aus dem Wittenberger Lutherhaus zugrunde, die auch sein Werkstattkollege, Hans der Maler, aufgreift. Sinnigerweise zitiert Kemmer nicht nur das Bildmotiv, sondern verweist damit zugleich auf den mahnenden Gebotstext „Du sollst nicht ehebrechen“.
Mit der Liebesgabe verbindet Kemmer also Porträts mit einem christlich-moralisierenden Inhalt und verknüpft diese mit der Darstellung eines gesellschaftlichen Ereignisses in Lübeck. Die Bildtafel mit der Positionierung des Paares vor dem kräftigen Baum, dem Motiv des Pferdes, das hinter dem Baum hervorlugt, und der Landschaft mit den von Burgen bekrönten steilen Bergen ist ohne die Vorbilder Cranachs nicht denkbar. Gerade das Motiv des Pferdes hinter dem Baum erscheint auf allen „Parisurteilen“ von Cranach, so auch bei dem in der Ausstellung gezeigten Kopenhagener Bild von 1520.
Porträt und Propaganda
Ein Porträt der besonderen Art fertigt Hans Kemmer von Hermann Bonnus an. Es ist das Totenbild des am 12. Februar 1548 verstorbenen Reformators und ersten Lübecker Superintendenten. Bonnus war zudem der erste Rektor des Katharineums, der noch heute existierenden Schule, die 1531 im Zuge der Reformation im Franziskanerkloster neben der Katharinenkirche eingerichtet wurde. Drei Tage lang können die Lübecker und Lübeckerinnen von dem Aufgebahrten in der Marienkirche Abschied nehmen und bekommen dabei vermutlich einen ähnlichen Anblick zu Gesicht.
Während dieser Zeit malt Hans Kemmer den Toten im Auftrag des Rates. Wie die vielen Totenbildnisse Luthers dient das Bild des friedlich entschlafenen Bonnus auch dazu, der katholischen Propaganda entgegenzutreten. Diese verkündete, dass im Tod der Teufel von den Lutheranern Besitz ergreife und sie deshalb mit entstelltem Gesichtsausdruck sterben würden.
Auch auf protestantischer Seite wird das Mittel der Propaganda genutzt, um die Gegenseite in Verruf zu bringen und die eigene Sache zu stärken. Hierfür setzt die reformatorische Bewegung auf die Macht der Bilder, die mittels der Druckgraphik eine bislang ungeahnt schnelle Verbreitung erfahren. So können sich die Spottbilder des auf einer Sau reitenden Papstes (links), des Sackpfeife spielenden Esels mit Papsttiara und folglich auch ihre antipapistische Message im ganzen Reich verbreiten.
Lucas Cranach d. Ä. stirbt am 16. Oktober 1553 in Weimar, wohin er seinem Dienstherren Kurfürst Johann Friedrich gefolgt war. Bestattet wird er auf dem dortigen Jakobsfriedhof. Weniger als ein Jahrzehnt später, am 2. August 1561, stirbt sein ehemaliger Schüler Hans Kemmer in Lübeck. Hier war er zu einem angesehenen Bürger und zu einem der führenden Maler der Stadt geworden. Die Vorkehrungen zu seiner Bestattung trifft sein Schwiegersohn Johann Balhorn, ein Mitglied der bekannten Lübecker Buchdruckerfamilie. Seine letzte Ruhestätte findet der Meistermaler in der Katharinenkirche, der beliebten Grablege wohlhabender Lübecker, gegenüber seinem Wohnhaus an der Königstraße.